Sieh mich. Ich schreie nach Leben. Ich schreie nach Freiheit.
Sieh mich.
Ich bin eine Frau.
Ich schreie nach Leben.
Ich schreie nach Freiheit.
ACHTUNG! Diese Kolumne enthält Erzählungen zu Gewalt, seelischer Gewalt, Gewalt gegen Kinder und Vergew***igung! Wenn ihr weiterlesen möchtet, klickt einfach auf den Button „Show„.
Sieh mich. Ich bin so viele von den vielen Ichs. Ich schreie nach Leben. Ich schreie nach Freiheit.
Ich bin hier gefangen. Gefangen in einem System, das mich unterdrückt. Ich bin hier gefangen. Gefangen in einem System, das mich tötet. Ich bin hier gefangen. Gefangen in einer korrupten Justiz, die mich nicht an meinem Prozess teilnehmen lässt und vor Gericht erfundene Beweise hervorbringt, die mein Todesurteil legitimieren. Ich bin hier gefangen. Gefangen unter derselben Sonne wie du, nur dass du in ihr badest und ich unter ihr verbrenne.
Sieh mich. Ich bin eine Frau. Ich schreie nach Leben. Ich schreie nach Freiheit. Ich bin Jina. Ich bin 21. Ich bin Kurdin. Ich bin tot.
Sie haben mich ermordet.
Ermordet, weil ich eine Frau war. Ermordet, weil ich zu einer Minderheit gehörte. Ermordet, weil ich jung war und so viel Leben vor mir lag. Ermordet, weil der Schal auf meinem Kopf für mich nicht dieselbe Bedeutung hätte wie für sie. Ich kann nicht mehr nach Leben und Freiheit schreien. Dafür schreien jetzt aber viele tausende Menschen seit einem Jahr meinen Namen. Sie schreien jeden Tag. Sie bezahlen mit ihrem Leben. Sie schreien weiter. Stoppt die Feminizide! Stoppt die Morde!
Sieh mich. Ich bin eine Frau. Ich schreie nach Leben. Ich schreie nach Freiheit. Ich bin Hadis. Ich bin 23.
Ich bin tot. Sie haben mich ermordet.
Ermordet, weil meine Faust in der Luft für sie bedrohlicher war als ihre Waffe für mich. Aus zwanzig Metern Entfernung trafen sie mich mit zwanzig Kugeln. Die letzte Sequenz zeigt mich von hinten, wie ich kämpferisch meine Haare zu einem Zopf binde. Auf in den Kampf! Auf in die Befreiung! Meine Befreiung verlief anders, als ich es mir gewünscht hätte. Selbst über die Toten wollen sie verfügen. Meine Eltern durften meinen leblosen Körper zwei Tage lang nicht sehen. Das Regime wollte sie glauben lassen, ich hätte einen Herzinfarkt. So machen sie es immer. Die Löcher in meinem Körper jedoch durchlöcherten ihre Wahrheit, daher zwangen sie meine Eltern nach meinem Tod zu schweigen. Was aber hast du noch zu verlieren, wenn du dein Kind lebendig verabschiedest und in der Leichenhalle begrüßt?
Sieh mich. Ich bin eine Frau. Ich schreie nach Leben. Ich schreie nach Freiheit.
Ich darf nicht singen, dort, wo man mich sehen und hören könnte. Ich darf nicht tanzen, dort wo die Blicke meinem Körper folgen und „falsche Gedanken“ auslösen könnten. Es sei meine Schuld, dass sie mich und meinen Körper sexualisieren. Deswegen sperren sie meine Seele ein und mich in einen Schleier, den ich nicht tragen möchte. Ich darf kein Fahrrad fahren, weil meine Silhouette auf einem Fahrrad obszön und zu erregend sei. Deswegen verbrenne ich jetzt das Symbol von 44-Jahren Unterdrückung. Meine Haare im Wind sind so frei wie mein Geist. Ihr könnt mich nicht brechen.
Sieh mich. Ich bin ein Kind. Ich schreie nach Leben. Ich schreie nach Freiheit.
Ich werde als Mädchen und als Mädchen gelesen – zwangsverheiratet im Regime und das schon mit zehn. Der Mensch darf dann schon über zwanzig sein und mich so per Gesetz offiziell sexuell missbrauchen. Ich bin doch noch ein Kind. So wie Hasti, Helen, Mona, Kian und Diana. Sie waren gerade mal sieben oder acht. Sie wurden vom Regime auf offener Straße erschossen und erschlagen. Sowie so viele andere Kinder, seit sie Jina ermordet haben. Sowie so viele vergiftete Schulkinder. Warum schweigt die UNICEF? Warum muss Samaneh, die für die Rechte der Kinder kämpft ins Gefängnis? Warum muss Yalda einen Tag nachdem sie aus der Haft entlassen wird, in Folge der multiplen körperlichen und seelischen Folter sterben? Warum verschleppen sie Sepideh am Tag nach ihrer Entlassung? Warum weinen Eltern am Grab ihrer Kinder an Nooroouz? Warum sehe ich die Farben des Regenbogens nicht mehr? Warum sieht die Welt dabei nur zu?
Sieh mich. Ich bin queer. Ich schreie nach Leben. Ich schreie nach Freiheit. Ich bin Nika, ich bin 15. Ich bin Luri. Ich bin queer. Ich bin tot.
Sie haben mich ermordet. Ermordet, weil ich laut war, nachdem sie Jina getötet haben. Laut war, weil ich als queerer Mensch keine Rechte in dem patriarchalen-diktatorischen System habe. Ich liebe Fußball. Genauso wie Sarina. Sarina haben sie auch ermordet. Sie war erst 16. Wir durften noch nie in ein Stadium. Sie sagen, hier sei nur ein Ort für Männer, denn wenn Männer schwitzen und in kurzen Hosen laufen, könnte uns Frauen das erregen. Komisch. Ich mochte doch gar keine Männer und dass ich mich als Frau identifiziere, habe ich nie gesagt. Ich mochte Nele. Wir haben uns im Internet kennengelernt. Wir werden uns nie sehen. Ich werde nie mehr auf einer Bühne herumalbern und singen. Mein Lachen wird die Tränen meiner Tante nicht mehr trocknen können. Nach meinem Tod schrien sie weiter. Sie bezahlten mit ihrem Leben. Sie kämpfen weiter. Sie werden in Gefängnissen sexueller Folter ausgesetzt und wegen Verdorbenheit auf Erden zu Tode verurteilt. Sie schreien weiter. Sie bleiben laut.
Sieh mich. Ich bin eine Frau. Ich schreie nach Leben. Ich schreie nach Freiheit. Ich bin Ghazal. Ich bin 21.
Ich bin erblindet. Mein Auge blutet wie die Seele meiner Mutter, als sie mit ansehen muss, wie mein Strahlen einseitig erlischt. Beidseitig griffen sie mich an und schlugen auf mich ein. Sie schossen in mein rechtes Auge, während mein linkes dabei zusah. Ihr Hass auf mich ist groß, aber mein Wille nach Freiheit ist größer, denn: Ich darf nicht allein reisen, ohne die Erlaubnis meines Mannes, meines Vaters oder eines anderen männlichen Verwandten. Ich bin gefangen im Patriarchat. Ich schreie und bin laut. Sie töten mich auf der Straße oder sperren mich ins Gefängnis. Dort foltern sie mich. Auch zu Tode. Bevor ich dann tot bin, vergewaltigen sie mich, vor allem dann, wenn ich unverheiratet bin – weil sie denken, dass ich noch keinen Sex hatte – damit meine Seele nicht ins „Paradies“ findet, denn unverheiratete Frauen, die Sex haben, gehören in die Hölle. Komisch, denn das hier ist die Hölle. Tag für Tag. Deswegen bin ich die Revolution. Für mich und meine Schwestern. Für mich und meine queeren Geschwister. Für mich und meine Mütter, die das Regime seit vier Jahrzehnten geiselt. Für mich und meine Mohsens und Mehdis und Mohammads, die für mich gekämpft haben und vor Sonnenaufgang am Galgen erhängt wurden. Für mich und meine Toomajs und Jamshids und Yassins, die seit vielen hunderten Tagen jeden Tag in Isolationshaft lebendig sterben. Für mich und meine politischen Gefangenen, die in der Uni und nicht in Folter sitzen sollten. Für mich und alle, die, weil sie nicht für die sind, nicht für sich sein können. Für mich, dich und unsere Freiheit. Für unsere Zukunft.
Sieh mich. Ich bin eine Frau. Ich schreie nach Leben. Ich schreie nach Freiheit. Ich bin Armita. Ich bin 16.
Ich bin tot. Sie haben mich ermordet.
Ermordet, weil ich Widerstand geleistet habe. Gegen das Patriarchat. Gegen die Diktatur. Gegen Fanatismus. Gegen all das, wofür sie stehen und wogegen wir kämpfen.
„Even the darkest night will end, and the sun will rise“, schrieb ich unter ein Bild von mir ohne Hijab auf den Straßen, ein Jahr nach dem Mord an Jina. Unsere Bilder zeigen uns ähnlich, fast so als hätten zwölf Monate Kampf dazwischen nicht existiert. Fast so als hätten unsere blutigen Hände nichts verändert. Krankenhaus. Koma. Schläuche. Schreie. Hirntot. Konsequenzen, für mich ja, für die nicht. Ähnlich wie Jina und so viele andere, deren Namen -anders als unsere- nicht zu Parolen für die Freiheit wurden, brachen ihre brutalen Schläge meinen Willen. Ein Monat voller Dunkelheit, in der Hoffnung auf Licht, aber meine Sonne ging nicht mehr auf.
Sieh mich. Ich bin so viele von den vielen Ichs. Ich schreie nach Leben. Ich schreie nach Freiheit.
Ich blute. Ich verblute. Ich kämpfe. Ich brenne. Ich verbrenne. Mein Leben hier gleicht dem Tod. Sie nehmen mir mein Leben also nicht erst, wenn sie mich töten, sondern Tag für Tag, während ich versuche hier zu überleben. Deswegen kämpfe ich weiter. Solange bis nach der Nacht die Sonne am Horizont schwebt und keine Menschen an Galgen. Meine Stimme ist deine Stimme, sei du auch meine Stimme. Sei laut. Sei standhaft. Sei die Berge. Sei das Meer. Sei die Särge. Sei der Schmerz. Du kannst nicht frei sein, wenn ich nicht frei bin.
Bo Jin Jîyan Azadi.
Baraye Zan Zendegi Azadi.
Für Frau Leben Freiheit.
Von Ramona